Petrograd 1920

Der letzte Baedeker-Reiseführer vor der Revolution widmete der Stadt St. Petersburg, “zweite Hauptstadt und erste Residenz des russischen Reiches”, und ihren Sehenswürdigkeiten über achtzig Seiten, gefolgt von weiteren dreißig Seiten zu den umliegenden Schlössern und Parks. “Am Landeplatz der Dampfboote, sowie an den Bahnhöfen stehen die Wagen der besseren Hotels bereit. Die Conducteure sprechen meist deutsch und übernehmen auch die Besorgung des Gepäcks.” Wer hier aus Moskau mit der Eisenbahn anreiste, stieg am Nikolai-Bahnhof am Snamensky-Platz aus und hatte sogleich die wichtigste der Petersburger Prachtstraßen vor sich, den Newsky-Prospekt, der seinen Namen dem Alexander Newsky-Kloster verdankt, an dem er endet. Alexander Newsky, dessen Grab sich im Kloster befindet, war ein Nowgoroder Fürst des 13. Jahrhunderts, der als Schutzheiliger der Stadt gilt.

Für den Besucher entfaltete sich hier die ganze Pracht und das städtische Getümmel einer der großen europäischen Residenzstädte. “Das Straßenleben auf dem Newsky-Prospect ist überaus lebhaft und mannigfaltig”, wusste der Baedeker 1913 zu berichten. “Alle Arten von Wagen, von den eleganten Equipagen der kaiserlichen Familie (kenntlich an dem Diener in hellrother Livree) und der Vornehmen und Reichen bis herab zu den verschiedenen Sorten der Lohnfuhrwerke drängen sich mit den Tramways und Omnibus auf den Fahrwegen in raschester Bewegung durcheinander, dazwischen zahlreiche Reiter der sehr bunt und glänzend uniformierten St. Petersburger Garnison. Auf den Trottoirs tummelt sich, besonders an Feiertagen, eine aus Vertretern aller Racen und Völkerschaften zusammengesetzte, in den verschiedensten Nationaltrachten und Uniformen (denn fast ein Zehntel der männlichen Bevölkerung St. Petersburgs, bis zu den Subalternbeamten und Schülern herab, trägt Uniform) einherzstolzierende Menge.”

1920 war vieles anders geworden. Wer nun durch die Stadt fuhr, die seit 1914 Petrograd hieß, dem begegneten neben den barocken Monumenten der Zarenresidenz ebenso die Zeugnisse der Blütezeit industriezeitlichen Bauens, Niederschlag eines “Laboratoriums aller Bauformen” in dieser Zeit (Karl Schlögel), Spuren der wachsenden Agonie während des Ersten Weltkriegs, aber auch schon allenthalben die Zeichen der neuen Macht.

Ballodora dimorpha, Zarskoe Selo.