Im Schlamm

“Sahe ich den, in einem reinen und hellen Glaße sich befindenden, Schlamm etwas genauer an, so fand ich sogleich mit bloßen Augen nicht nur denselben an den Glaswänden durchwühlet und durchgraben; sondern ich ward auf seiner Oberfläche einer unbeschreiblichen Menge länglichrunder Löcher und Gruben gewahr; deren Durchschnitt oben am stärksten war, alsdenn aber in den Schlamm hinein mehr und mehr abnahm, und die folglich in der Länge tricherähnlich waren. … Vornämlich aber stunden in den länglichrunden Löchern, sehr viele blaßrothe schmale und lange Körper, wie Faden, die sich im Wasser auf verschiedene Art hin und her bewegen. In einigen Löchern waren deren einzelne, in andern aber deren mehrere zugleich. Ich fand, wie allezeit ein Theil von diesen anscheinenden Fäden in dem Schlamm steckte, wenn sich der andere über dem Schlamme im Wasser bewegte; jedoch mit dem Unterscheide, daß bald das Meiste von ihnen im Schlamm verborgen war, und daselbst seine Bewegung hatte; bald aber das Meiste sich im Wasser bewegte, und nur etwas Weniges in der Grube und in dem Schlamm sich befand. Jedoch, es brauchte keines großen und langen Aufmerkens, um mich zu überzeugen, daß diese blaßweißen anscheinenden Fäden lebendige Geschöpfe wären; und ich will ihnen vorläufig den Namen kleiner Wasseraale beilegen.” (Jacob Christian Schäffer: Abhandlungen von Insecten. Bd. 1. Regensburg 1764, S. 309-310).

Der im Wasser lebende Röhrenwurm atmet über den Darm. Tubifex tubifex, dessen dem Blut ähnliche hämoglobinhaltige Körperflüssigkeit ihm eine rötliche Farbe verleiht, kann aber auch Tage oder sogar Wochen ohne Sauerstoff überleben. Während der Wurm, dessen Hinterende aus seinen Schlammröhren im Sediment herausragt, sich im Normalfall durch undulierende Bewegungen mit dem Frischwasser Sauerstoff zuführt, den er über äußere Blutkiemen aufnimmt, kann Tubifex in sauerstoffarmen Gewässern die zum Überleben notwendige Energie für einige Zeit auch durch Glykolyse, also den schrittweisen Zuckerabbau ohne Sauerstoff, gewinnen.

Lange war der 1774 von dem dänischen Schneckenforscher Otto Friedrich Müller in seinem Werk “Vermium terrestrium et fluviatilium” als Lumbricus tubifex taxonomisch eingeordnete Tubifex tubifex (AphiaID 137569) die einzige Art der Gattung Tubifex. Schon die Zeitgenossen Müllers waren ganz besonders von der enormen Fortpflanzungsfähigkeit dieser Ringelwürmer fasziniert, die ihnen bis heute einen herausragenden Platz als Fischfutter garantieren. Auf diese Weise kam auch der Regensburger evangelische Prediger Jacob Christian Schäffer mit ihnen in Kontakt. Ihm hatten es die “grünen Armpolypen” in den Gewässern in der Umgebung seines Wirkungsortes angetan, und bereits 1755 hatte er diesen Tieren und den nach seiner Auffassung zu deren Nahrung dienenden Kleinlebewesen eine eigene Schrift gewidmet, in der auch Tubifex bereits unter dem Namen “kleiner Wasseraal” angesprochen wurde: “Die grünen Armpolypen. Die geschwänzten und ungeschwänzten zackigen Wasserflöhe. Und eine besondere Art kleiner Wasseraale.”

Nach einer sorgfältigen Entnahme der Würmer aus dem Schlamm verfasste Schäffer eine genaue Beschreibung ihres Äußeren und dessen, was er von ihrem Innern im nahezu durchsichtigen Körper entdecken konnte. Nur Geschlechtsorgane suchte der wie alle seine damaligen Kollegen von den Möglichkeiten der Paarung besonders faszinierte Gelehrte vergebens. Er war allerdings bereits aus seinen Beobachtungen bei den Wasserflöhen mit der Möglichkeit vertraut, dass jedes dieser Geschöpfe “männlichen und weiblichen Geschlechts zugleich sein müsse” (285). Der Tubifex als Hermaphrodit - ein Umstand, den nachzuweisen erst sehr viel später gelingen sollte.

Ballodora dimorpha, Zarskoe Selo.